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„Ein Zurück gibt es nicht mehr.“

Zeitzeugin Gisela Tillmanns in einem Garten in Baukau, 2006. (Foto: Piorr)
Die „Zeugen Jehovas“ wurden unter dem NS-Regime aufgrund ihres Glaubens verfolgt. Die Hernerin Gisela Tillmanns erinnert sich - auch an ihre Mutter Helene Gotthold, die von den Nazis ermordet wurde.

Angenehm warm fielen die Sonnenstrahlen auf unsere Gesichter. „Was haben Sie empfunden, als Ihre Mutter von den Nazis hingerichtet wurde?“, fragte ich Gisela Tilmanns. Für einen kurzen Augenblick herrschte Schweigen in der Spätsommer-Idylle dieses Gartens in Baukau. „Ich fing an zu weinen, als ich die Nachricht von der Urteilsvollstreckung bekam. Aber mir war klar, dass es eine Prüfung war, die Gott von seinen Kindern verlangte“, antwortete die 85-Jährige mit fester Stimme. Bei ihr thront der Glaube weit über dem persönlichen Schmerz.
Gisela Tilmanns wurde am 24. November 1923 in Herne geboren. Ihre Eltern Friedrich und Helene Gotthold gehörten zu den „Zeugen Jehovas“, die früher „Ernste Bibelforscher“ genannt wurden. Sie richteten ihr Leben streng nach den Lehren der Bibel aus, so dass ab 1933 der Konflikt mit dem NS-Regime vorprogrammiert war: Das Bekenntnis zur Kriegsdienstverweigerung gehört zur Grundlage ihres Glaubens, den „Deutschen Gruß“, den „Treue-Eid auf den Führer“ und die Mitgliedschaft in NS-Zwangskörperschaften verweigerten sie konsequent. Die Nationalsozialisten verfolgten die „Ernsten Bibelforscher“ mit unerbittlicher Härte. Trotzdem führten weit mehr als 20.000 Bibelforscher ihre Zusammenkünfte und Missionstätigkeit beharrlich und konspirativ fort. In Herne umfasste der Kreis 1936 etwa 80 und in Wanne-Eickel etwa 25 Personen. 

Standhaft trotz Verfolgung

Die Zeugen Jehovas deuteten die Verfolgung durch das Regime als eine ihnen auferlegte Prüfung, in der sie ihre Glaubenstreue zu beweisen hatten. Insofern war der Widerstand gegen das NS-Regime für sie ein Akt des Bekenntnisses. In der „Briefkastenaktion 1936“ wurden Tausende von Flugblättern in deutschen Städten verteilt, um gegen die Einschränkung der Glaubensfreiheit zu protestieren und die Öffentlichkeit über den verbrecherischen Charakter des Regimes aufzuklären. Gisela Tilmanns erinnert sich: „Ich habe zusammen mit meinem Vater die Flugblätter auf der Mont-Cenis-Straße verteilt. Als alles vorbei war, waren wir froh, dass sich nie per Zufall eine Haustür geöffnet hatte.“ Trotzdem gerieten auch ihre Eltern ins Visier der Gestapo und wurden 1936 während einer landesweiten Verhaftungswelle inhaftiert.

Vielen Zeugen Jehovas blieb nach der „Schutzhaft“ die Freiheit verwährt, die sie sich mit einer schriftlichen „Erklärung“, dem Glauben abzuschwören, hätten sichern können. Umgehend und ohne erneute Verhandlung wurden sie direkt in verschiedene Konzentrationslager überstellt, wo sie als „eigenständige Häftlingskategorie“ mit dem „lila Winkel“ gekennzeichnet wurden. So erging es auch dem Herner Invaliden Karl Schurstein. Dem Polizeigefängnis Bochum folgten die Stationen Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau. Trotz seiner körperlichen Behinderung bewältigte er den brutalen Lageralltag und schmuggelte in seinem Holzbein sogar verbotene Glaubensschriften. Am 26. Februar 1942 deportierte ihn die SS von Dachau aus in einem Invalidentransport zum Schloss Hartheim in Österreich, wo er als Opfer des NS-Euthanasieprogramms vergast wurde.
Friedrich und Helene Gotthold kehrten nach einem Jahr Haft nach Herne zurück, wo das Glaubensleben weiter ging. In kleinen Kreisen traf man sich zum Bibel-Studium, der „Wachtturm“ wurde illegal verbreitet und trotz aller Gefahren fanden Haus-zu-Haus-Missionierungen statt. Gisela Tillmanns wartete lange, bis sie sich den Zeugen Jehovas anschloss. „Ich habe meine Eltern und ihre Überzeugungen immer geachtet, aber als junger Mensch hat man seine eigenen Vorstellungen.“ Erst 1943 in der Phase der stärksten Repression wurde sie in einer Waschküche in einem Holzbottich ganz unter Wasser getaucht und vollzog damit die rituelle Taufe. „Ich hatte keine Angst vor den Folgen“, sagt sie, „wir waren es gewohnt, dass immer wieder Schwestern oder Brüder verhaftet worden. Die Worte Jesus ‚Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen’, waren uns in dieser Zeit immer gegenwärtig“. 
Der „lila Winkel“: Symbol der Verfolgung der Zeugen Jehovas durch die Nazis.
Der „lila Winkel“: Symbol der Verfolgung der Zeugen Jehovas durch die Nazis.

Die Verurteilung

1944 wurden die Gottholds aufgrund der Verbreitung des „Wachtturms“ erneut inhaftiert. Im Saum ihrer Unterröcke, die von Gisela Tillmanns zu Hause gewaschen wurden, schickte Helene Gotthold auf zerknüllten Papierröllchen Botschaften aus dem Gefängnis an ihre Familie. „Wir sind geachtet wie Schlachtschafe. Wenn es des Herrn Wille ist, so kann er es abwenden. Lässt er es aber zu, so wollen wir es mit seiner Hilfe geduldig ertragen. Ein Zurück gibt es nicht mehr“, schrieb sie. Mit sieben anderen Angeklagten wurden die Gottholds ins Gefängnis nach Berlin-Plötzensee überstellt. Dort machte ihnen die NS-Justiz vor dem Volksgerichtshof einen unerbittlichen Prozess, der mit sechs Todesurteilen endete. Auch Helene Gotthold wurde wegen „Wehrkraftzersetzung in Verbindung mit landesverräterischer Begünstigung des Feindes“ zum Tode verurteilt und am 8. Dezember 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. In einem Abschiedsbrief an ihre Kinder heißt es: „Ich weiß, dass für Euch der Kampf nun weiter geht, aber ich habe bald meinen Kampf vollendet. In meinem Herzen ist Frieden und Ruhe. Seine Gebote zu halten, ist nicht schwer.“


„Wenn Sie so eine Mutter gehabt hätten, hätten Sie dann nicht auch versucht, ihrem Beispiel zu folgen?“, fragte Gisela Tillmanns und lebhaft funkelten ihre Augen. Bis heute engagiert sie sich für ihre Glaubensgemeinschaft - auch als Zeitzeugin dafür, dass der Widerstand und die Opfer der Zeugen Jehovas während des Dritten Reiches nicht vergessen werden.  
Trotz brutaler Repressionen standhaft im Glauben: Zusammenkunft der Zeugen Jehovas in einem Wald, Herne circa 1936
Trotz brutaler Repressionen standhaft im Glauben: Zusammenkunft der Zeugen Jehovas in einem Wald, Herne circa 1936

Opfer der „Zeugen Jehovas“ aus Herne und Wanne-Eickel

Hermann Benninghaus,
KZ Sachsenhausen am 10. April 1940

Eduard Broge,
KZ Dachau im Februar 1941

Wilhelm Brünger,
KZ Buchenwald im Juni 1938

Helene Gotthold,
Berlin-Plötzensee hingerichtet im Dezember 1944

Johann Krugiolka,
Strafanstalt Bochum 1938

Heinrich Mathias,
KZ Dachau; als Invalide Opfer der NS-Euthanasie im März 1942

Luise Pakull,
Berlin-Plötzensee hingerichtet im Dezember 1944

Karl Schurstein,
KZ Dachau; als Invalide Opfer der NS-Euthanasie: Schloss Hartheim (Linz) vergast

Josef Stachowiak,
KZ Neuengamme am 21. September 1944 
2016-12-15