Cookie-Einstellungen
herne.de setzt sogenannte essentielle Cookies ein. Diese Cookies sind für das Bereitstellen der Internetseite, ihrer Funktionen wie der Suche und individuellen Einstellungsmöglichkeiten technisch notwendig und können nicht abgewählt werden.
Darüber hinaus können Sie individuell einstellen, welche Cookies Sie bei der Nutzung von externen Webdiensten auf den Seiten von herne.de zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei Aktivierung Daten, zum Beispiel Ihre IP-Adresse, an den jeweiligen Anbieter übertragen werden können.
herne.de setzt zur Verbesserung der Nutzerfreundlichkeit das Webanalysetool eTracker in einer cookie-freien Variante ein. Mit Ihrer Zustimmung zum Setzen von eTracker-Cookies können Sie helfen, die Analyse weiter zu verfeinern. Eine Möglichkeit das Tracking vollständig zu unterbinden finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
eTracker:
Readspeaker:
Youtube:
Google Translate:
Homepage / Stadt und Leben / Stadtgeschichte / NS-Opfer / Die Zählappelle bei Regen

Die Zählappelle bei Regen

Channa Birnfeld wurde 1944 von Ungarn nach Auschwitz deportiert. Sie überlebte die nationalsozialistische Verfolgung und kam 1946 nach Herne. Auf einer Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Opfer des Todesmarsches der Insassen des Konzentrationslagers Dachau berichtete sie Mitte der 1990er Jahre zum ersten Mal öffentlich von ihren Erfahrungen. Seit dem hat Sie Herne oftmals besucht und bei mehreren öffentlichen Veranstaltungen Zeugnis abgelegt.

Herne war für mehrere Jahre der Endpunkt unserer Odyssee

Vor fast sechzig Jahren bin ich mit meinem Mann, meiner Schwester Olga und ihrem Ehemann in diese Stadt im Ruhrgebiet gekommen. In den Augen der Leute waren wir damals „Exoten“, denn alle Leute wussten, wer wir waren und von wo wir kamen. Das war kein Geheimnis. Wir waren Überlebende. Meine Schwester und ich hatten Auschwitz überlebt und waren eine Woche vor Kriegsende auf unserem Todesmarsch von amerikanischen Soldaten befreit worden. Herne war für mehrere Jahre der Endpunkt unserer Odyssee durch die Nachkriegswirren. In unsere Heimat, der Stadt Klauseburg in den ungarischen Karpaten, gab es keine Rückkehr. Meine Eltern wurden in Auschwitz ermordet, und wir lebten mit der Vorstellung, derjenige, den wir mit den eigenen Augen nicht gesehen haben, der lebte nicht mehr. Wenn niemand mehr da war, warum sollten wir also zurück?

Wir wurden in Viehwaggons transportiert

Wie lange waren wir unterwegs von Klausenburg nach Auschwitz? Ich habe mir den Kopf zerbrochen, es könnten vier Tage und Nächte gewesen sein. Wir wurden in Viehwaggons transportiert, oben mit einer kleinen Öffnung. Wir kamen irgendwo am Spätnachmittag an, und der Zug blieb stehen, bis es Nacht wurde. Dann wurden die Türen aufgerissen: „Los, los, raus!“ – „Die Sachen drin lassen! Morgen kriegt ihr sie wieder!“ Da sprangen wir eben raus und sofort hieß es: „Männer links! Frauen rechts! Los, los!“. Dies war das erste Mal, dass ich dieses „Los, los!“ hörte, und dann ein ganzes Jahr lang immer wieder. Es ging so schnell, dass wir Frauen uns vom Vater gar nicht verabschieden konnten. Wir standen zusammen, und es kamen seltsame Gestalten mit gestreiften Schlafanzügen auf uns zu, die etwas auf Jiddisch sagten. Ich verstand es nicht, aber andere verstanden es: „Nehmt eure Kopftücher runter und kneift eure Gesichter!“, Macht euch größer und stärker!“ Später habe ich erfahren, dass sie den jungen Frauen mit Kindern sagten: „Gib dein Kind deiner Mutter! Gib dein Kind deiner Schwiegermutter!!“ Man war in einem echten Schock, unfähig etwas zu denken. Nach einer kurzen Weile hieß es: „In Fünferreihen vor.“ Meine Reihe war so: Ich war links, anschließend kamen meine Mutter und meine Schwester, die eine Schönheit mit blonden Haaren war, und dann zwei unbekannte Frauen. Wir gingen nach vorn und blieben stehen. Da war eine Laterne, da stand jemand in Uniform, nahm mich am Arm und stupste mich nach links, die anderen vier rüber zur anderen Seite.

Es war dunkle Nacht und ich habe geweint vor Angst.

Es war dunkle Nacht und ich habe geweint vor Angst. Plötzlich hörte ich meinen Namen rufen. Ich drehte mich um und sah meine Schwester. „Wie kommst Du her?“ Sie erklärte mir, sie habe das Gefühl gehabt, dass ich Angst hätte. So hat sie sich hinter dem Rücken meiner Mutter nach mir umgedreht und ging dabei rechts weiter vor, so dass das das Licht auf ihr Gesicht fiel. Ein SS-Offizier sah ihr Gesicht. Da sie jung, schön und blond war, ging er ihr sogar die paar Schritte nach, fasste sie am Arm und zerrte sie nach links. Später erzählte mir meine Schwester, dass die Mutter gefragt habe: „Wohin denn? Das sind doch meine Töchter!“ Der SS-Mann sagte: „Morgen siehst du sie wieder.“ Und das war das Letzte, was wir von unserer Mutter vernahmen. Wir haben sie nicht umarmt, wir haben sie allein diesen letzten Weg gehen lassen.

‚Juden unerwünscht‘

Wir überlebten. In Herne verkehrten wir in einem kleinen jüdischen Freundeskreis. Aber dadurch dass mein Mann von vor dem Krieg Kontakte nach Herne hatte, kamen wir auch schon mal mit dem einen oder anderen „Deutschen“ privat zusammen. Bis mir eines Tages jemand sagte: „Diese Leute, mit denen ihr zusammen seid, das waren solche Nazis. Das waren die ersten, die ein Schild im Schaufenster hatten: ‚Juden unerwünscht‘.“ Ich hatte vorher alles geglaubt, was man mir erzählt hatte, von wegen: „Ja, unser Arzt oder unser Nachbar waren Juden und unser Vater hat dem geholfen...“, aber nach dieser Erfahrung habe ich mich total abgekapselt und verkehrte nur noch in jüdischen Kreisen. Ich wollte niemanden mehr die Möglichkeit geben, mir etwas über die Vergangenheit vorzulügen.

Nur der, der auch im Lager war, verstand, was ich meinte

Ende der fünfziger Jahre erkrankte meine Schwester an Krebs. Wir hatten die Zeit der Verfolgung und Deportation zusammen überlebt - und im Lager nicht allein zu sein, bedeutete ein halbes Leben. Sie starb und wurde am 23. Dezember 1959 auf dem kleinen jüdischen Friedhof am Hoverskamp begraben. Sie war die letzte, die dort noch beigesetzt wurde. Ich ging damals nach Hamburg, aber um ihr Grab zu besuchen, komme ich immer wieder nach Herne. Ich bin mittlerweile die einzige, die den Friedhof noch regelmäßig besucht, um dort einem Angehörigen zu gedenken.

Viele Jahrzehnte habe ich über meine Erfahrungen in den Konzentrationslagern nicht gesprochen. Dieser Schock des Entwurzelt-Seins wirkte noch lange nach. Ich wurde aber auch niemals gefragt:„Wie war es dort? Was habt ihr durchgemacht?“ Ob ich es überhaupt erzählt hätte? Ich weiß nicht, denn es ist für einen Außenstehenden fast unmöglich die Details des Lagerlebens in ihrer Tragweite zu begreifen. Wenn ich sagte: „Also weißt du, wenn ich denke an die Zählappelle bei Regen“. Schluss. Es fehlen die Worte, um die Bedeutung zu beschreiben. Nur der, der auch im Lager war, verstand, was ich meinte. Mitte der neunziger Jahre begann ich von meinen Erfahrungen öffentlich zu berichten, aber nur vereinzelt, denn es fällt mir bis heute schwer.

Einweihung der Gedenktafeln

Am 27. Januar 2005 wurde ich von der Stadt Herne als Ehrengast zur Einweihung der Gedenktafeln an die jüdische Gemeinde eingeladen. Vor allem das Zusammentreffen mit der jungen Generation hat mich dazu gebracht, die Einladung anzunehmen. Über die Konzentrationslager können diese jungen Menschen sonst nur abstrakt etwas erfahren. Aber wenn sie einen ganz normalen Menschen sehen wie mich, der sich bis auf das Alter nicht von ihnen unterscheidet, der über seine Erfahrungen in Auschwitz berichtet, vielleicht können sie dann eher begreifen. Schließlich ist es diese Generation, die andere Werte weiter tragen und verwirklichen soll.

(Der Text basiert auf der Rede von Channa Birnfeld vom 27. Januar 2005. Das Manuskript wurde von ihr 2008 ergänzt.)

2017-04-18