Eine halbe Stunde war für die Gedenkfeier vorgesehen: Dann dauerte sie 100 Minuten. Aber kaum einer verließ in den vielen bewegenden Augenblicken die Veranstaltung vorzeitig.
Das Shoah-Denkmal auf dem Willi-Pohlmann-Platz in Herne ist seiner Bestimmung übergeben. Jetzt können die Passanten von dem Mahnmal Besitz ergreifen, so wie es sich Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrates der Juden, vorstellt: „Wer aus dem Strom der Passanten, die über den Platz gehen, ausschert, gibt ein Bekenntnis ab für die Opfer.“
Wegen des widrigen Wetters musste der Festakt unter dem Dach des Kulturzentrums stattfinden. Dicht gedrängt standen die gespannt wartenden Menschen in den Gängen des Saals und im Foyer, dort lauschten sie der Übertragung aus dem Lautsprecher. Eine Stunde lang hörten etwa 400 Personen den Grußworten der Festredner im Saal der Volkshochschule zu, anschließend folgte ein kleiner Gedenkakt im Schneeregen vor dem Mahnmal.
Dann konnte das Publikum unter die Lupe nehmen, worüber so lange berichtet worden war – allen voran die jüdischen Gäste, die aus Israel, aus Amerika und aus Deutschland gekommen waren. Sie gingen die Rampe hoch und blieben an der Betonwand mit den Okularen stehen. Sie suchten die einzelnen „Brenngläser“ ab nach bekannten Namen, wischten mit der Hand über das Glas und manchmal hörte man Rufe von jemand, der fündig geworden war: „Hier, das ist meine Mutter“. Oder: „Das war meine Nachbarin.“
Ein Brennglas schärft den Blick
„Ein Brennglas schärft den Blick“, hatte Knobloch zuvor gesagt. „Die Okulare geben einen Einblick in das Leben von 400 Bürgern, die verfolgt und ermordet wurden. Ich muss die Stadt Herne loben, sie hat – im Gegensatz zu anderen Städten - die Auseinandersetzung mit der dunklen Geschichte verstärkt und ein ehrliches Engagement gezeigt“, sagte Knobloch in ihrem Grußwort im Saal des Kulturzentrums. Sie hob auch die „akribische Quellenarbeit“ des Historikers Ralf Piorr hervor und beurteilte den Entwurf durch die Künstler und Designer Gabriele Graffunder und Winfried Venne als „sehr gelungen“.
Mitten im Alltag
Das Denkmal soll „unser Bewusstsein wachrütteln“ und „den Blick schärfen“, betonte Oberbürgermeister Horst Schiereck in seiner Eröffnungsrede, und das nicht nur in die Vergangenheit hinein, sondern auch, um „in unserer Zeit mögliche Gefahren menschenverachtender Gewalt zu erkennen und abzuwenden“.
Mit dem Denkmal setzt die Stadt ein nicht zu übersehendes Zeichen: Waren die zehn dezentralen Tafeln eher dezent, so entfaltet das zentrale Denkmal auf einem der größten und wichtigsten Plätze der Stadt, zwischen Kulturzentrum und der Sparkasse, eine markante und mahnende Funktion. Das sei auch so gewollt, wie
OB Schiereck betonte: „Das Denkmal stellt sich uns in den Weg, wenn wir den öffentlichen Platz queren, es steht mitten in unserem Alltag.“
Kulturstaatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff fragte, Celan zitierend: „Wie gedenkt man der Opfer, deren ‚Grab in der Luft‘ ist?“ Wenn man sich den Toten der Shoah zuwenden wolle, sei es das Mindeste, ihre Namen und ihre Geburts- und Todesdaten zu nennen. Deshalb wolle er der Stadt Herne dafür danken, dass sie durch das Nennen der Namen an die Opfer erinnere und sich damit ihnen zuwende. Der Stadt Herne bescheinigte er, die Erinnerungskultur „auf vorbildliche Weise“ zu pflegen.
Nun ade, mein lieb Heimatland
Gunter Ruf aus Amerika, über 90 Jahre alt, gewann die Sympathien der lauschenden Gäste mit den ersten Sätzen seiner Rede: „Bitte verzeihen Sie mein schlechtes Deutsch. Das letzte Mal, als ich öffentlich die deutsche Sprache benutzte, war, als ich mit acht Jahren ,Hänschen klein‘ sang.“ In seinen Erinnerungen haben sich schöne und hässliche Begebenheiten vermischt: „Ich streute Zucker auf das Fensterbrett, in der Hoffnung, dass der Storch mir eine kleine Schwester bringt. Aber ich kann auch meinen Schwimmunterricht nicht vergessen, weil dort ein Schild war, auf dem unübersehbar die Worte standen: ‚Juden verboten‘.“ Mit einem Kindertransport reiste er nach England. Auf dem Bahnhof sangen die Kinder „Nun ade, mein lieb Heimatland“. Gunter Ruf: „Das war das letzte Mal, dass ich meine Mutter sah.“
Von Freude und Leid
Und dann versammelten sich alle auf dem Willi-Pohlmann-Platz. Unter einem kleinen Zeltdach standen Oberbürgermeister Horst Schiereck und Charlotte Knobloch und flankierten die 78-jährige Ester Hochermann. Und drum herum versammelte sich das Publikum in der Kälte des Schneeregens, unter Regenschirmen, vermummt in Mäntel, Schals und Kopfbedeckungen. Esther Hochermann sollte und wollte nur ein paar Worte sprechen. Aber sie vergaß sich in der Zeit und berichtete in beeindruckenden Worten von ihrem Leben. Sie erzählte von der Freude am Schlittschuhfahren, von dem Laternenmann, der die Straßenbeleuchtung wie aus Zauberhand anfachte, von dem Tag, als sie aus ihrem Fenster schaute und den goldenen Davidstern nicht mehr sah. In den Okularen seien die Namen ihrer Eltern, Lehrer und Bekannten zu finden.
Zum Schluss das Totengebet
Und die Zuschauer zitterten, es war nicht zu erkennen, ob wegen der Kälte oder vor Rührung, aber sie harrten aus, bis Lester Christie, ein Neffe von Hochermann, das Kaddish sprach, das jüdische Totengebet. Er las es in jüdischer Sprache aus einem schwarzen kleinen Büchlein vor, das seine Mutter bei ihrer Flucht über den Ozean bei sich gehabt hatte. Im Gebet heißt es: Lasst Gottes Namen großen Frieden und großes Leben gebären. Für uns und alle. Und sagt: Ja. Amen.
Von Horst Martens (Text) und Thomas Schmidt (Fotos)