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Wanne-Eickel, New York und zurück

Zum Gedächtnis ihrer Großeltern Wolf und Elise Weinberg und zur Erinnerung an ihre Eltern Arthur und Julie Kaufmann, für die es keine Begräbnisstätte gibt, legt Liesel Spencer (mit ihren Kindern Allen und Madeleine) einen Stein auf das Grabmahl.
Im November 1938 musste Liesel Kaufmann in Wanne-Eickel um ihr Leben fürchten. 70 Jahre später, im Sommer 2008, bewirtete sie Jugendliche aus ihrer Geburtsstadt in ihrem Haus. Dazwischen liegen die Shoah, 6.000 Kilometer und fast ein Leben. Ralf Piorr beschreibt die Geschichte einer ungewöhnlichen Begegnung.

„Es war einer der schlimmsten Tage meines Lebens“, erinnert sich Liesel Spencer, die als Liesel Kaufmann 1923 in Röhlinghausen geboren wurde, an den 10. November 1938, den Morgen nach der Reichspogromnacht. Ahnungslos über das, was in der Nacht zuvor geschehen war, fuhr das fünfzehnjährige Mädchen mit dem Zug zu ihrer Lehrstelle nach Essen. In der Innenstadt erschreckten sie die qualmenden Reste der Synagoge. Gegen Mittag beorderte sie ein Telefonanruf ihrer Mutter zurück nach Röhlinghausen. „Als ich vom Bahnhof kam, sah ich vor unserem Haus eine Menschenmenge. Alle schrieen ‚Verbrennt die Juden’, ‚Tötet die Juden’. Ich hatte Angst, mich überhaupt zu nähern.“

Ihr Vater, Arthur Kaufmann, war am Morgen wie alle anderen jüdischen Männer verhaftet und ins KZ Sachsenhausen deportiert worden. Innerlich und äußerlich zerstört kehrte er drei Wochen später zurück. Um wenigstens die Kinder zu schützen, meldeten die Kaufmanns Liesel und ihren Bruder Werner für einen Kindertransport nach England an. Der Abschied wurde für Liesel Spencer bis heute zu einer schmerzhaften Erinnerung: „Mein Vater brachte mich zum Bahnhof. Wir dachten, der Abschied wäre nur für ein paar Monate. Aber wir haben unsere Eltern nie wieder gesehen.“ Im Januar 1942 wurden Julie und Arthur Kaufmann mit vielen anderen Juden aus Wanne-Eickel und Herne in das Ghetto Riga deportiert und schließlich 1944 im KZ Stutthof ermordet. 
Michèle Schnarre und Liesel Spencer, die 1938 als Sechzehnjährige aus Wanne-Eickel fliehen musste. (Foto: Weuder)
Michèle Schnarre und Liesel Spencer, die 1938 als Sechzehnjährige aus Wanne-Eickel fliehen musste. (Foto: Weuder)

70 Jahre später

Sommer 2008. Eine Reisegruppe von Schülern der Erich-Fried-Gesamtschule landet am John F. Kennedy-Flughafen in New York. Mit dem Zug geht es weiter nach Matawan, New Jersey, wo Liesel Spencer sie erwartet. Die vier Schüler und zwei Lehrerinnen sind für zehn Tage Gäste in ihrem Haus. Kennen gelernt haben sie sich ein Jahr zuvor. Die Herner hatten eine Gedenktafel in Erinnerung an die Familie Kaufmann gestaltet, die heute an der Edmund-Weber-Straße 173 steht. Auf Einladung der Stadt Herne weilte Liesel Spencer zu diesem Anlass in ihrem Geburtsort. Nach wie vor mit einem nahezu perfekten Deutsch ausgestattet, brachte sie in jenen denkwürdigen Tagen zahlreiche Veranstaltungen hinter sich. An die 400 Menschen hörten ihre eindringlich erzählte Lebensgeschichte. Fernsehen, Radio und Zeitungen berichteten ausführlich. Oft gab es Augenblicke, in denen sie den Tränen nahe war. Die Erinnerung an den Hass, der der Familie nach der Reichspogromnacht entgegen schlug, und der Abschied von den Eltern 1939, der nur für eine kurze Zeit sein sollte und dann für immer war, das brachte ihre Stimme noch heute ins Stocken. In diesen Momenten wurden der Schmerz und die Trauer für alle, die ihr zuhörten, greifbar. Aber Liesel Spencer stellte sich diesen Emotionen. „Schließlich bin ich gekommen, um meine Geschichte zu erzählen, damit man sich erinnert und nicht vergisst“, sagte sie. Es war ein Sog von traurigen Erinnerungen, ungeheurer Vitalität und einer aufrichtigen Liebenswürdigkeit. Auch für die Schülerinnen und Schülern blieb die Begegnung eindrucksvoll. „Sie hat uns sofort in ihr Herz geschlossen – und wir sie in unseres“, so Sascha Rutzen.

Matawan im Sommer. Eine verschlafene amerikanische Vorstadt, zu Fuß wird nirgendwo gegangen, die Häuser sind vollklimatisiert. Liesel Spencer hat ihre beiden Kühlschränke für die Gäste mit Lebensmitteln voll gepfropft. Ob sie früher jemals über die Möglichkeit einer solchen Begegnung nachgedacht hätte? „Das war unvorstellbar“, winkt sie ab. „Als der Krieg zu Ende war, habe ich jeden Deutschen, und alles was mit Deutschland zu tun hatte, gehasst. Das Land hatte mir zu viel genommen: meine Eltern, meine Tanten und Onkels, Cousins und Cousinen. Die meisten meiner deutschen Dokumente habe ich verbrannt. Ich stand neben dem Feuer und sah, wie meine Vergangenheit zu Asche wurde.“  

Begegnung der Generationen

Für die jungen Herner ist diese Erinnerung spürbar, als Respekt, nicht als Barriere. In der Wohnung ihrer Gastgeberin sammeln sich Bilder aus ihrer Geburtsstadt, eine Handzeichnung der Wanne-Eickeler Synagoge, eine Menora und Fotos aus Israel. Im Garten des Hauses wird diskutiert. „Ich habe mich jahrelang schuldig gefühlt, meine Eltern verlassen zu haben“, erzählt Liesel Spencer mit bewegter Stimme. „Ich konnte darüber nicht sprechen und jede Nacht quälten mich Alpträume. Oft sah ich mich selbst in einem Konzentrationslager.“ Die jungen Herner sind über dieses Bekenntnis überrascht. „Eigentlich war sie das Opfer und trotzdem plagte sie sich mit den Schuldgefühlen einer Überlebenden“, stellt Michèle Schnarre fest. Geschichte ist eben auch Lebensgeschichte und manchmal verdichtet sich die Zeitgeschichte eindrucksvoll in einer Biografie. Im Gespräch der so unterschiedlichen Generationen wird die Shoah nicht verdrängt, sondern in das Verhältnis einbezogen. „Ich fühle mich nicht für das schuldig, was in der NS-Zeit passierte. Aber ich fühle mich verantwortlich dafür, dass es nicht vergessen wird und sich nichts Ähnliches wiederholt“, begründet Michèle Schnarre ihr Engagement. „Es war seltsam, Liesel in der Küche hantieren zu sehen, wo sie Abendessen für uns vorbereitete, und gleichzeitig darüber nachzudenken, was sie selbst erlebt hat. Als sie Deutschland verlassen musste, war sie ungefähr so alt wie ich heute.“ Gemeinsam besuchten sie die Synagoge in Matawan und das „Center for Holocaust Studies“. „Wir wurden mit offenen Armen empfangen. Niemand begegnete uns mit Vorbehalten, und man begrüßte uns als Gäste“, beschreibt Sascha Rutzen seine Erfahrungen und resümiert: „Die Eindrücke mit Liesel werden mich ein Leben lang begleiten. Als wir uns verabschiedeten, war sie mehr als eine ‚Zeitzeugin’. Sie war unsere Gastgeberin und Freundin.“ Auch Liesel Spencer muss in Erinnerung an ihre jungen deutschen Freunde lächeln. „Die Zeit mit ihnen war auch für mich wichtig. Ich kann mich heute ohne Hass gegen Deutschland an meine Eltern erinnern, denn ich weiß, es gibt dort mittlerweile Menschen, die ganz anders sind und auch voller Abscheu an den Nationalsozialismus denken.“ 

Eine Begegnung über Generation hinweg: Sascha Rutzen, Henning Hartmann, Till Weuder und Michèle Schnarre zu Besuch bei Liesel Spencer, New Jersey, 2008.
Eine Begegnung über Generation hinweg: Sascha Rutzen, Henning Hartmann, Till Weuder und Michèle Schnarre zu Besuch bei Liesel Spencer, New Jersey, 2008.

2017-04-18