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Die Stunde des Bekennens

Der Holsterhauser Pfarrer Ludwig Steil widerstand dem Nationalsozialismus und blieb seinem Glauben treu. Er starb im KZ Dachau und gilt bis heute als „Märtyrer von Westfalen“. Aber nur noch wenige Menschen außerhalb seiner früheren Gemeinde verbinden mit seinem Namen eine Geschichte.

„Nach Holsterhausen gehe ich nicht“, soll Ludwig Steil nach seiner Probepredigt im Wanne-Eickeler Stadtteil spontan geäußert haben. Als ihn aber einen Tag später der Ruf des Presbyteriums ereilte, nahm er seine Aufgabe ohne zu zögern an. Eckhard Cramer, heute Pfarrer der Stephanuskirche in der evangelischen Kirchengemeinde Holsterhausen, muss lachen, wenn er diese Anekdote über seinen impulsiven Vorgänger erzählt. „In unserer Kirchengemeinde ist die Person Ludwig Steil bis heute präsent - und nicht nur wegen seines Martyriums im Nationalsozialismus. Aber in der Stadt Herne selbst weiß man eher selten etwas, mit seinem Namen anzufangen“, berichtet Cramer und fügt hinzu: „Seiner zu gedenken, bleibt aber unsere Aufgabe, denn das Blut der Märtyrer ist der Samen der Kirche.” 

Der Mensch

Ludwig Steil wurde am 29. Oktober 1900 in Remscheid-Lüttringhausen geboren. Selbst Pfarrersohn, entschied er sich in früher Jugend dazu, ebenfalls in der Seelsorge seine Lebensaufgabe zu sehen. Nach seiner Ordination trat er im Juni 1929 seine Pfarrstelle in dem „Industriedorf“ Holsterhausen an. Die meisten seiner Gemeindemitglieder arbeiteten auf der Zeche Shamrock, in nächster Nähe des Pfarrhauses lag ein Stickstoffwerk. „Zwischen zwei Industriestädten, die keiner kennt, wenn auch jede 100.000 Einwohner hat, liegt die Gemeinde Holsterhausen, deren 3.200 Glieder in den vergangenen Jahren durch Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit hart bedrängt waren. Auch jetzt ist die Not noch groß“, beschrieb Steil seine Gemeinde mit knappen Worten. Der Mann, der weltlichen Genüssen wie Essen, Trinken und Tabak keineswegs abhold gewesen sein soll, kam in seiner Gemeinde jedenfalls an. „Pastor Steil passte zu uns, der war volkstümlich. Sein Lachen hörte man schon von weitem. Er konnte ausgesprochen lustig sein“, erinnerte sich Ilse Grafarend an den stämmigen Pfarrer.


In dem lebensbejahenden Mann paarten sich aber auch ein starker Glaube und ein aufrechter Charakter. Mit großem persönlichen Engagement versah er seine Arbeit in der pauperisierten Gemeinde, dessen Presbyterium sogar beschlossen hatte, die Altarkerzen „aus Armut“ nur bei Abendmahlsfeiern zu entzünden. Vor allem mit Hilfe der Frauen gelang es Steil, ein aktives Gemeindeleben aufzubauen. Dabei hatte er selbst, einen schweren Schicksalsschlag zu verkraften. Sein erstes Kind wurde tot geboren und seine Frau Elisabeth starb nur wenige Monate später. „Meine Tränen vor Gott, vor den Menschen ein fröhliches Angesicht“, bekannte Steil. 
Ludwig Steil mit seiner „zweiten“ Familie – Ehefrau Gusti und Tochter Brigitte.

Der Kirchenkampf


Der Nationalsozialismus zog an der beschaulichen Bergmannsgemeinde nicht vorbei. „Seit 1904 haben die Gemeindemitglieder zusammengestanden, als aber seit August 1932 durch einige entkirchlichte Männer die Gruppe der ‚Deutschen Christen’ eindrang, wurde auch hier ein deutlicher Riss sichtbar“, beschrieb Ludwig Steil 1934 die Situation. Der Machtkampf um Kirche und Bekenntnis war in Holsterhausen und im Kirchenkreis Herne - wie überall in Deutschland - entbrannt. Die „Glaubensbewegung Deutscher Christen“ (kurz: DC) propagierte die innere wie äußere Anpassung der evangelischen Kirche an die NS-Ideologie mit den Elementen des „Führerprinzips“ und der Volkstums- und Rassenideologie. Für Ludwig Steil war diese „Gleichschaltung“ unvorstellbar. Sein oppositionelles Engagement machte ihn noch bekannter: Seine Gemeinde stand hinter ihm und auf kreiskirchlicher Ebene scharrten sich die „bekennenden Christen“ um ihn. Auch überregional tauchte der Name des streitbaren Pfarrers immer öfter auf. Steil trat dem von Pfarrer Martin Niemöller im September 1933 gegründeten „Pfarrernotbund“ sofort bei. Als am 16. März 1934 in Dortmund die westfälische „Bekenntnissynode“ zusammentrat, hielt Steil den Einführungsvortrag und wurde in den westfälischen Bruderrat aufgenommen. Unter den gegebenen politischen Umständen ließen seine Worte keine Zweifel aufkommen: „Wir sagen den Heiden in unserem Volk, dass wir Christen bleiben. Wir sagen den Schwärmern in unserer Kirche, dass wir evangelisch bleiben. Wir sagen den Verzagten unter uns, dass wir auf die Hilfe Gottes hoffen.“
Nur wenige Wochen später gründete sich in Wuppertal die „Bekennende Kirche“ und distanzierte sich mit dem „Barmer Bekenntnis“ deutlich vom Nationalsozialismus. Steil war an der Ausarbeitung zur „praktischen Arbeit der Bekenntnissynode“ federführend beteiligt. Nachdem die evangelischen Nazis des DC gegen ihn vor Ort den Kürzeren gezogen hatten, übernahm der Staatsapparat mit Repressions- und Einschüchterungsmaßnahmen die Initiative. Allein im Jahr 1938 liefen beim Sondergericht in Dortmund fünf Verfahren gegen den Pfarrer - stets lautete die Anklage: „heimtückische Angriffe auf Staat und Partei“. Man denunzierte, überwachte und verunglimpfte Ludwig Steil. Immer wieder erhielt er von der Gestapo Vorladungen, seine Predigten, die er auch in auswärtigen Pfarrgemeinden hielt, wurden bespitzelt. 

Die Verhaftung


Im Sommer 1944 nahm Steil in Herne als Prediger an der Volksmission teil. Gisela K., damals als 16-jährige in der Gestapo-Außenstelle Bochum, Bergstraße 76, eingesetzt, bekam im August 1944 den Auftrag, eine Predigt von Steil in der Wanner Christuskirche zu überwachen. Gemeinsam mit einer Kollegin hielten sie die Predigt stenographisch fest. „Es war ein Gleichnis über einen Mann, der alles haben wollte, der nicht genug kriegen konnte, und so schließlich alles zusammenbrach“, erinnert sie sich noch Jahrzehnte später. Erst nach dem Krieg habe sie gehört, was aus dem Pfarrer geworden sei. Pflichtgemäß gab sie ihre Mitschriften bei der Gestapo ab. In der Herner Kreuzkirche klagte Steil den Krieg und die Vernichtung der Juden an. Die Gestapo verhörte ihn aufgrund der Mitschriften, ließ ihn vorerst aber wieder frei. Am Nachmittag des 11. September 1944 klingelte erneut ein Polizeibeamter am Pfarrhaus in Holsterhausen und Ludwig Steil ließ sich von seiner Frau Gusti den Lodenmantel bringen. Wieder stand eine Verhaftung an. Es sollte die letzte sein. 

Die Nächte


Ludwig Steil wurde von der Gestapo in die berüchtigte Steinwache nach Dortmund gebracht. Seine Frau Gusti besuchte ihn, ab und an konnte er ihr einen Brief schicken oder einen Zettel zustecken. All diese Zeugnisse dokumentierte Gusti Steil in der Biografie ihres Mannes, die erstmals kurz nach dem Krieg publiziert worden war und 1990 vom Presbyterium der Kirchengemeinde Holsterhausen neu herausgegeben wurde. Die Dokumente bezeugen das Bekenntnis eines Mannes in Haft, dessen Geist und Glaube sich nicht brechen ließen.
Besonders die Abendstunden waren für Ludwig Steil Momente der Demut. Ab 18 Uhr brach die Dunkelheit in seine Zelle ein und er bereitete sich sein Lager auf dem Fußboden, um darauf zwölf Stunden zu liegen. Es waren lange Stunden des Wachseins und nur kurze des erholsamen Schlafes. Und doch wurde diese Zeit zur „Offenbarung“: „Ich habe daheim in wachen Nachtstunden immer die Zeit als langsam empfunden. Hier gehört es zu den Geschenken Gottes, dass solche Nächte gar nichts mit ‚Zeit’ zu tun haben, sondern ein Stück Ewigkeit sind: Fürbitte vor Gottes Thron und großer Friede füllen sie aus. Der Schritt der Wachleute, das Husten der Mitgefangenen, der Pfiff einer Lokomotive sind die einzigen Töne der ‚Zeit’, die ab und zu hörbar werden.“
Die Gefangenschaft bricht ihn nicht, sondern stärkt seinen Glauben und seine Überzeugung. Und er weiß darum, dass die Seinen mit ihm sind. Noch vor dieser letzten Verhaftung, von der keiner wusste, dass sie ohne Rückkehr sein sollte, hatte seine Frau zu ihm gesagt: „Wenn sie Dich mal holen, wissen wir jedenfalls, dass die Kirche mehr durch ihr Schweigen gesündigt hat als durch ihr Reden.“ Ein Satz, der über das persönliche Märtyrium Steils hinweg sinnbildlich steht für das zu lange Wegsehen der größten Teile der christlichen Kirchen über die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus. 
Brief von Steil aus der Steinwache in Dortmund, Oktober 1944.
Brief von Ludwig Steil aus der Steinwache in Dortmund, Oktober 1944.

Der Tod in Dachau


Durch Bombenangriffe wurde die Steinwache schwer beschädigt wird, so dass Steil am 19. Oktober 1944 ins Polizeigefängnis nach Herne verlegt wurde. Die Haftbedingungen waren dort leichter: Die Gefangenen konnten in andere Zellen gehen, kamen zweimal täglich auf den Hof. Gusti Steil brachte ihrem Mann Essen und sprach mit ihm. Steil notierte: „Ob der Weg noch nach Dachau führt oder in absehbarer Zeit nach Hause – ‚Gott weiß’.“
Am 5. Dezember begann der Transport ins KZ Dachau, der zu einer dreiwöchigen Tortur werden sollte. Erschöpft und krank kam er dort am 23. Dezember 1944 an. Aus Ludwig Steil wurde die Nummer 136.938. Aber er blieb kenntlich. In der Aufnahmebaracke hielt er die Weihnachtspredigt, den Pfarrerblock, wo er Gleichgesinnte gefunden hätte, lernte er aber nicht mehr kennen. Steil wurde mit Typhusverdacht in eine Krankenbaracke verlegt, wo er am 17. Januar 1945 verstarb. Zuletzt hatte ihn eine Lungenentzündung ergriffen und das Ende noch beschleunigt. Am Abend hielten Freunde hinter der Baracke in eisiger Kälte und zwischen Bergen von Leichen eine Trauerfeier ab. Irgendwo lagen auch die sterblichen Überreste des evangelischen Pfarrers aus Holsterhausen, die Tage später im Krematorium verbrannt wurden.
Die Gemeinde in Holsterhausen erfuhr noch vor dem Ende des Krieges von Steils Ableben. Gusti Steil schreibt in ihren Erinnerungen: „Es gab eine große Trauer in der Gemeinde, die doch selbst ständig vom Tod bedroht war. ‚Was sollten wir tun, als wir die Nachricht bekamen?’ schrieb eine Familie von auswärts, ‚wir haben alle miteinander geweint’.“ Noch aus der Krankenbaracke in Dachau heraus hatte Ludwig Steil eine Postkarte an seine Frau geschrieben. Dieses letzte bekannte Zeugnis des Pfarrers endete mit den Worten: „Wie werden Gottes Wege mit uns weitergehen? Am Ende steht immer Er selbst.“ 
2017-04-18